Direkt zu den Inhalten springen

Stellungnahme an die Mindestlohnkommission

3. Anhörung zu den Auswirkungen des geltenden gesetzlichen Mindestlohns

Der SoVD bewertet die Auswirkungen des seit Januar 2015 geltenden gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland grundsätzlich als positiv. Zum 1. Januar 2015 fielen rund vier Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland unter den Mindestlohnschutz. Entgegen aller warnenden Stimmen hat die Einführung des Mindestlohns nicht zu einer Reduzierung von Arbeitsplätzen geführt.

Die Beschäftigung ist seit Einführung des Mindestlohns insgesamt gestiegen: Die Erwerbstätigkeit stieg im Jahr 2016 gegenüber dem Jahr 2015 um 1,3 Prozent; im Jahr 2018 gegenüber 2017 ist sie ebenfalls um 1,3 Prozent gestiegen.

Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland hat in den ersten beiden Jahren zu deutlichen Steigerungen der durchschnittlichen Stundenlöhne am unteren Rand des Lohnspektrums geführt. Laut SOEP-Daten ist der durchschnittliche Stundenlohn der untersten 10 Prozent der Stundenlohnverteilung von 2014 bis 2016 um insgesamt 15 Prozent gestiegen und von 2015 bis 2016 zudem deutlich stärker gewachsen als der Stundenlohn höherer Lohn-Dezile. Insbesondere im Gastgewerbe, Einzelhandel und in der Fleischverarbeitung haben Beschäftigte von dem eingeführten Mindestlohn profitiert.

Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) von 2018 belegt, dass die Stundenlöhne im Niedriglohnsektor um insgesamt 13 Prozent gestiegen sind. Damit konnte in vielen Fällen Einkommensarmut zunächst abgemildert werden. Der Lohnzuwachs im Niedriglohnsektor ist jedoch insbesondere auf die Stellenwechsel von Beschäftigten zurückzuführen, die häufig bei größeren Betrieben eine neue Beschäftigung gefunden haben, die besser bezahlt ist. Berechnungen von Forschern des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie des Londoner University College zufolge, sind etwa ein Viertel des gesamten durch den Mindestlohn herbeigeführten Lohnanstiegs auf solche Stellenwechsel zurückzuführen.

Trotz der Einführung des Mindestlohns stagniert der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten weiterhin auf einem im Vergleich der EU-Länder besonders hohen Niveau: Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) betrug der mittlere Bruttostundenlohn in Deutschland (ohne Auszubildende, Praktikantinnen und Praktikanten) im Jahr 2017 16,20 Euro. Die Schwelle zum Niedriglohnbereich lag bei 10,80 Euro – das entspricht 60 Prozent des nationalen Medianlohns. Beschäftigte, die Mindestlohn beziehen, aktuell 9,35 Euro, bleiben also im unteren Niedriglohnbereich verhaftet. 2018 arbeitete jeder fünfte Beschäftigte im Niedriglohnsektor.

2018 erhielten insgesamt 2,4 Millionen Beschäftige in ihrer Haupttätigkeit weniger als den Mindestlohn (2018: 8,84 Euro). DIW-Schätzungen zufolge sind es sogar 3,8 Millionen Beschäftigte, wenn man den tatsächlichen Stundenlohn, also auch Überstunden, heranzieht. Geringfügig Beschäftigte treffen Mindestlohnumgehungen besonders häufig: Fast jeder zweite Anspruchsberechtigte erhält keinen Mindestlohn. Darüber hinaus sind ausländische, junge und ostdeutsche Arbeitnehmer*innen sowie Beschäftigte in kleineren Unternehmen in besonderem Maße von Mindestlohnumgehungen betroffen – vor allem im Gastgewerbe, im Einzelhandel und in der Leih- und Zeitarbeit. Zwar werden die Lohnuntergrenzen offiziell meist eingehalten, problematisch ist aber, dass insbesondere die Angaben zu Arbeitszeit oft falsch sind. Ein weiteres Problem ergibt sich dadurch, dass z.B. bei Reinigungsdiensten durch eine Erhöhung der zu reinigenden Objekte innerhalb der vereinbarten Arbeitszeit bei Beschäftigten der Mindestlohn de facto unterlaufen wird. Nicht selten ergeben sich aus diesen Arbeitserfordernissen Überstunden, die nicht entgolten werden.

Der Mindestlohn ist in seiner derzeitigen Form als arbeitsmarktpolitische Maßnahme nur bedingt geeignet, um Lohnarmut nachhaltig und effektiv zu begegnen und vor Altersarmut zu schützen. Das zeigt auch eine schriftliche Anfrage aus dem Bundestag. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales räumte im Mai 2018 ein, dass eine beschäftigte Person 45 Jahre lang mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Wochenstunden mindestens 12,63 Euro verdienen müsste, um im Alter eine Rente zu bekommen, welche über der Grundsicherungsschwelle läge. Einen nachhaltigen Schutz vor Altersarmut bietet der derzeitige Mindestlohn also nicht.

Man hoffte mit der Einführung des Mindestlohns außerdem die Zahl der Beschäftigten, die trotz Vollzeitbeschäftigung Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen müssen – reduzieren zu können. Laut einer Studie des WSI ist die Anzahl der sogenannten Aufstocker im Jahr 2015 und 2016 nur geringfügig zurückgegangen und 2017 sogar wieder angestiegen. 2017 haben mehr als 190.000 Vollzeitbeschäftigte zusätzlich Grundsicherungsleistungen bezogen. Zurückzuführen ist dies nicht nur auf größere Haushalte mit nur einem Verdienenden, sondern auch auf die gestiegenen Wohnkosten.

In einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung fragte die Linksfraktion, ob die gegenwärtige Höhe des Mindestlohns einen angemessenen Mindestschutz – orientiert an den derzeitigen ALG-II-Leistungen – erreichen würde. Konkret fragte die Fraktion, wie hoch der Bruttolohn eines Vollzeitbeschäftigten in denjenigen Kreisen und kreisfreien Städten sein müsste, in denen die durchschnittlichen tatsächlichen Wohnkosten über den als angemessen anerkannten Wohnkosten liegen, damit Arbeitnehmer*innen nicht als Aufstocker in den ALG-II-Bezug geraten.

Die Antwort: In München müsste der Bruttolohn bei 11,01 Euro für eine alleinstehende Person liegen, in Berlin bei 9,76 Euro, in Hamburg bei 10,13 Euro. Bei Alleinerziehenden mit einem Kind unter 6 Jahren wäre in München ein Stundenlohn von 12,76 Euro erforderlich, in Berlin von 10,60 Euro und in Hamburg von 12,16 Euro, um nicht auf ALG-II-Leistungen angewiesen zu sein. In dieser Berechnung geht es allerdings nur darum, welche durchschnittlichen Bruttolohnwerte regionsbezogen aufgrund der hohen Wohnkosten erforderlich wären, um bei Vollzeitbeschäftigung nicht zusätzlich mit SGB-II-Leistungen aufstocken zu müssen. Die berechneten Brutto-Mindestlohn-Werte geben dabei noch keine Auskunft über den Schutz vor Altersarmut. 2018, so berechnete das BMAS, wäre bei Vollzeitbeschäftigung ein Mindestlohn in Höhe von 12,63 Euro erforderlich gewesen, um bei einer Beschäftigungsdauer von 45 Jahren eine alleinstehende Person effektiv vor Altersarmut zu schützen (siehe Abschnitt weiter oben). Das zeigt: Die derzeitige Ausgestaltung des Mindestlohns (in Verbindung mit den angestiegenen Wohnkosten und der Absenkung des Rentenniveaus) reicht nicht aus, um ein Leben über Grundsicherungsniveau zu ermöglichen.

Forderungen des SoVD für eine bessere Ausgestaltung des Mindestlohns im PDF