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Corona-Krise: Triage

Zur Diskussion um die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen in Zeiten der Pandemie

Was heißt „Triage“? 

Triage bezeichnet bei knappen Ressourcen die Auswahl von Erkrankten oder Verletzten nach Gesichtspunkten wie Dringlichkeit oder Überlebenswahrscheinlichkeit. Es geht also um die Rangfolge medizinischer Hilfe im Katastrophenfall.

Der Begriff „Triage“ kommt aus dem Franzö­sischen und kann mit „Sortierung“ übersetzt werden.

Medizinische Fachgesellschaften lösen Debatte aus 

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ist eine Fachgesellschaft der Intensiv- und Notfallmediziner*innen. Sie erarbeitete im März 2020 zusammen mit anderen Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlun­gen für „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensiv­medizin“ im Corona-Kontext. Dagegen gab es öffentliche Kritik. Deshalb überarbeiteten die Fachgesellschaften im April 2020 ihre Empfehlungen.

Warum entstanden die Empfehlungen?

In Italien, Spanien und Frankreich starben viele COVID-19-Patient*innen, weil Kliniken überfüllt waren und es nicht mehr ausreichend Betten auf Intensivstationen gab. Zum Teil wurden Corona-Patient*innen über 80 Jahren generell von der Beatmung ausgeschlossen.

Die jetzt vorgelegten Empfehlungen sollen Mediziner*innen als Leitfaden dienen und willkürliche Entscheidungen verhindern. Sie sollen helfen, dass Ärzt*innen vor Ort im Katastrophenfall medizinisch und ethisch begründete Auswahlentscheidungen für medizinische Hilfe treffen können.

Inhalt der DIVI-Empfehlungen 

Die Rangfolge der Patient*innen solle sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren. Konkret sei die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, inwieweit diese die konkrete Behandlung überleben.

Dabei sollen in die Gesamtbewertung folgende Informationen einfließen:

  • individuelle Zustand des Patienten oder der Patientin aufgrund der aktuellen, schweren COVID-19-Erkrankung,vorhandene Vorerkrankungen (Komorbiditäten), die den Erfolg der intensivmedizinischen Behandlung erheblich erschweren, und
  • der allgemeine Gesundheitszustand gemäß einer sogenannten „Gebrechlichkeitsskala“.

Bei der Rangfolgeentscheidung sei die Erfolgsaussicht im Vergleich zu anderen Patient*innen zu beurteilen. Prüfen sollten Ärzt*innen dies vor, aber auch immer wieder während einer Intensivtherapie.

Die Empfehlungen enthalten zudem Verfahrensvorschläge. Entscheidungen sollen die Verantwortlichen im Mehr- Augen-Prinzip treffen. Ein Prüfungsschema („Flussdiagramm“) soll ihnen helfen, den Prüfprozess zu durchlaufen und zu entscheiden.

Zusätzlich steht eine Dokumentationshilfe im Ankreuzmodus zur Verfügung.

Was sagt der Ethikrat?

Auch der Deutsche Ethikrat hat im März 2020 Empfehlungen zur Corona- Krise veröffentlicht; mit wichtigen Feststellungen ebenfalls zur Triage. Er betont, dass es für gewisse tragische Situationen keine rechtlich und ethisch umfassend befriedigende Lösung gebe.

Jedoch setze das Grundgesetz den verbindlichen Rahmen. Aus dem Menschenwürdeschutz heraus dürfe der Staat menschliches Leben nicht bewerten und auch nicht vorschreiben, welches Leben in Notsituationen vorrangig zu retten sei.

Zwar mögen Fachgesellschaften Orientierungshilfen geben. Aber jede*r Mediziner*in bleibe für die eigene Entscheidung selbst verantwortlich.

Was sagt der SoVD?

Der SoVD setzt sich dafür ein, dass alle an COVID-19 Erkrankten in Deutschland die bestmögliche medizinische Versorgung erhalten. Dies schließt intensivmedizinische Behandlungen ein.

Die Politik muss aktiv bleiben und den Mangel an intensivmedizinischer Versorgung weiterhin mit allen Kräften verhindern. Nötig bleibt eine ausreichend hohe Zahl an Intensivbetten und Beatmungsgeräten. Ebenfalls wichtig ist Transparenz über freie Kapazitäten an Kliniken.

Privatisierungen und ökonomischen Druck im Gesundheitssystem kritisiert der SoVD seit Langem. In der Krise zeigen sich die Probleme deutlicher denn je. Die zunehmend marktähnlich organisierte Kranken- und Pflegeversorgung muss so reguliert werden, dass vorhandene Mittel zum Wohle der Men­schen mit Bedarfen und nicht zur Rendite­gewinnung privater Unternehmen eingesetzt werden.

Kontaktbeschränkungen dürfen nur mit Augenmaß gelockert werden. Parallel braucht Deutschland gute Schutzkonzepte, um die (Wieder-) Ausbreitung des Virus auf­zuhalten.

Zugleich appelliert der SoVD an alle Menschen, solidarisch zu sein mit besonders vulnerablen Gruppen, etwa Menschen mit Behinderungen und schweren Vorerkrankungen. Abstands- sowie Hygieneregeln sind strikt einzuhalten. Alle müssen mithelfen, die Infektionskurve möglichst flach zu halten. Nur so kann unser Gesund­heitssystem sämtliche Erkrankte optimal versorgen.

Der SoVD fordert mit Nachdruck, alle Kräfte darauf zu richten, einen Mangel an intensiv­medizinischer Versorgung zu verhindern. Die Politik ist ebenso gefordert wie jede*r Einzelne.

Wenn trotz dieser vorrangigen Anstrengun­gen der Krisenfall nicht zu verhindern ist, unterstreicht der SoVD seine Position:

Keinesfalls – auch nicht in Mangelsituatio­nen – dürfen sozialer Status, Alter, Behinde­rung oder abstrakte Grunderkrankungen legi­time Kriterien sein, um intensivmedizinische Behandlung zu versagen.

Stattdessen müssen Ärzt*innen in jedem Einzelfall individuell und konkret die Schwere der Erkrankung und die Überlebenswahrscheinlichkeit hinsichtlich der konkret geplanten Behandlung medizinisch beurteilen.

Abstrakte Kriterien, wie sie in der „Gebrechlichkeitsskala“ zum Ausdruck kommen, lehnt der SoVD klar ab. Warum sollte jemand, der bei anspruchsvolleren Aktivitäten des täglichen Lebens, etwa schwerer Hausarbeit, Hilfe benötigt (Stufe 5, „leicht gebrechlich“), beim Zugang zur Intensivmedizin schlechter stehen als „fitte“ Menschen der Stufe 2? Die Skala legt den Verdacht nahe, dass Ältere und Menschen mit Behinderungen per se schlechtere Aussichten auf Behandlung haben und in Triage-Situationen diskriminiert werden. Schematische Lösungen darf es in solch ethisch grundlegenden Situationen nicht geben.

Sozialinfo als pdf